36. Gespensterreise
Wenn man glaubt im (falschen) Film zu sein
Die Geschichten um Reisende, die in stürmischen Gewitternächten an die Tür einer einsamen Herberge klopfen kennen wir reichlich aus der Literatur.
Unheimliche Gäste, wie Billy Bones, der in einer solchen Nacht das Admiral Benbow Inn betritt, sind ebenso häufig anzutreffen wie dubiose Herbergswirte oder Schlossbesitzer. Wer kennt nicht die Szene als der junge Anwalt Jonathan Harker in Transsylvanien auf Burg Dracula ankommt?
Wenn sich aber Realität und Fiktion vermischen, wird es schnell unübersichtlich und man beginnt am eigenen Verstand zu zweifeln. Möge der gewillte Leser mir gedanklich in diese Situation folgen, welche in der schnöden Realität beginnt.
Um zur Zeit der Ascot-Rennwoche südlich von London ein Quartier zu bekommen, sollte man lange im Voraus gebucht haben. Findet man ansonsten in England fast immer ein Unterkommen in einem der zahlreichen Bed and Breakfast, muss man Mitte Juni dort schon lange suchen. Immer weiter östlich getrieben, fanden wir schließlich, am Spätnachmittag eine Unterkunft in Margate. Besonders einladend wirkte diese zwar nicht, aber nach mehrstündiger erfolgloser Suche muss man nehmen was man bekommen kann. Das Zimmer wirkte auf den ersten Blick sehr verwohnt. Der zweite Blick und die löchrige Bettwäsche bekräftigten diesen Eindruck. Das Interieur im altenglischen Stil, schrieben wir, zu diesem Zeitpunkt, noch dem Sinn der Eigentümer für Nostalgisches zu.
Die Nacht verlief, bis auf wenige Geräusche rumpelnder Wasserspülungen recht ruhig. Zumindest ohne Erscheinungen verblichener ehemaliger Bewohner.
Als wir uns am nächsten Morgen im Frühstücksraum einfanden, erwartete uns dort eine äußerst skurrile Szenerie. Die überwiegend viktorianische Ausgesta-tung des Raums, schien nicht bewusst gewählt zu sein. Vielmehr wurde wohl einfach seit 1885 vergessen, etwas daran zu verändern. Selbst der leicht modrig-muffige Geruch fügte sich harmonisch in den Gesamteindruck des Etablissements.
Die Schwarzweiß-Fotografien an den Wänden zeigten ausnahmslos Personen der letzten zwei Jahrhunderte. Den Urgroßvater mütterlicherseits als Lieutenant der Royal Horse Artillery in Secunderabad, daneben den Urgroßvater väterlicherseits in der Uniform eines Lancers der leichten Kavallerie 1879 bei Ulundi. Zu den etwas aktuelleren Aufnahmen, gehörte der im flandrischen Schützengraben posierende Cousin, mit auf dem Karabiner aufgepflanztem Bajonett.
Die bereits anwesenden anderen Gäste, ich möchte aus Respekt nicht den Begriff ‚Gestalten‘ benutzen, musterten uns mit unverhohlenem Interesse. Offensichtlich handelte es sich um Dauergäste, die dort seit den glorreichen Tagen, da Margate noch ein mondänes Seebad war, logierten. Seit Ende der 1950er Jahre waren wir möglicherweise die Ersten, die für diese Menschen einen realen Bezug zur Außenwelt darstellten.
Wir erwarteten jeden Moment das Eintreten von John Cleese, in der Rolle des Hotelbesitzers Basil Fawlty, vermuteten wir mittlerweile doch, in die Dreharbeiten zu der Serie ‚Fawlty Towers‘, geraten zu sein. Die Servicekraft, die uns das Frühstück auftrug, führte uns jedoch in die nächste Surrealität. Weit über siebzig Jahre alt, bestand eine frappante Ähnlichkeit zu Margaret Rutherford, wie wir sie als Haushälterin aus 16 Uhr 50 ab Paddington, kennen. Schwarzes Kostüm, weiße Schürze und Spitzenhäubchen. Wortlos, mit starrem Grinsen, servierte sie das Frühstück.
Auch die Mimik und die Bewegungen der anderen Gäste hatten etwas sehr Morbides. Ein Herr undefinierbaren Alters, lief beständig mit einer Zeitung unter dem Arm im Zimmer hin und her. Es hätte mich nicht überrascht, wenn der Leitartikel von der Krönungszeremonie Queen Elizabeths berichtet hätte. Eine hochbetagte Dame saß stumm kauend am Nachbartisch. Außer dem Unterkiefer bewegte sich nichts. Sie war maßgeblich schuld, an unserem unguten Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Zu diesem Zeitpunkt wünschte ich, ich hätte weniger von E.A. Poe gelesen.
Das Frühstück selbst, traditionell britisch, war kaum zu genießen. Irgendeine der aufgetragenen Speisen schmeckte stark nach Schimmel. Am Geruch ließ sie sich nicht eindeutig erkennen, da ja der ganze Raum diesen Duft in sich trug. Der strohige Bacon konnte es nicht sein, die auf der Unterseite stark angekohlten Spiegeleier wohl eher auch nicht. Also hatten wir die Baked Beans in Verdacht. Und obwohl wir diese daraufhin ausließen, ereilte uns zwei Stunden später doch eine Übelkeitsattacke. Die Orangenmarmelade war im Glas verhärtet. Nur mit Mühe war nach Aufbrechen der kristallinen Schicht, ein Löffelchen etwas weicherer, dennoch kaum streichfähiger Substanz heraus zu bekommen. Es gab aber unglücklicherweise keine andere Möglichkeit um den ranzigen Geschmack der gesalzenen Butter zu überdecken. Man hätte natürlich auch noch auf die Butter verzichten können, dazu waren die Toastscheiben aber einfach zu altbacken.
Etwas später kam ein, wie sollte es anders sein, Ehepaar in den Mittsiebzigern herein. Die britische Kriminalliteratur hat uns soweit geschult, dass man ihn sofort als ‚Major‘ oder zumindest ‚Captain‘ im Ruhestand erkannte. Auch seine Erwartung, dass sich jedermann umgehend seinem Kommando unterzuordnen hat, ist uns ebenfalls, sowohl aus der Literatur wie auch zahlreichen britischen Filmen bekannt. Die Ähnlichkeit mit den militärischen Vertretern auf den Fotografien erklärten sein ausgeprägtes Kolonialmachtsgehabe, welches er an den Tag legte. Wie er, so schien auch seine Gattin einer früheren Zeit entsprungen zu sein. Man kennt ihren Typus aus Fernsehserien wie Downtown Abbey oder dem Haus am Eaton Place.
Sie nahmen an einem der freien Tische Platz und warteten steif auf die Rückkehr von Miss Marple. In dem Raum herrschte nahezu Totenstille. Lediglich die durch den dicken Teppich gedämpften Schritte des Herrn mit der Zeitung und das Ticken der Chippendale- Pendeluhr verhinderte die Imagination, zu glauben man sei in einem Panoptikum.
Miss Marple durchbrach die ohrenbetäubende Stille mit ihrer Aufwartung am Tisch des Majors und seiner Gattin. Mit distinguiertem Getue nahmen sie daraufhin ihr Frühstück zu sich, die Qualität der Zutaten, mit britischer Gelassenheit, einfach ignorierend. Ich hatte das Gefühl, dass mir das Frühstück und die seltsame Atmosphäre nicht so recht bekam.
Die stickige, muffige Raumluft und die minderwertigen Speisen, konnten aber nicht die alleinigen Auslöser für die bei mir einsetzenden Wahrnehmungsstörungen gewesen sein.
Denn gerade zu dem Zeitpunkt, als die Blumenmuster der altenglischen Tapete sich in psychedelischen Kreisen zu drehen begannen, erschien vor meinem geistigen Auge, eine Szenerie mit der Majorsgattin in einem parkähnlichen Garten. Auf einem gusseisernen Gartenstuhl sitzend, zelebrierte sie den five- o´clock tea. Ihre rechte Hand hielt, mit abgespreiztem kleinen Finger das Tässchen, während die Linke ein dreieckiges Gurkensandwich zu den Lippen balancierte. Ich hörte dezente Orchestermusik aus dem Salon oder dem nahen Promenaden-Bandstand herüberwehen. Der Major stand in prachtvoller Uniform einige Meter abseits. Auf dem linken Arm ruhte eine doppelläufige Flinte. Sein Gutsverwalter kniete neben ihm und bestückte diabolisch grinsend, die Wurfmaschine, anstatt mit Tontauben, mit Sausages, gegrillten Tomaten und Fried Eggs. Just in dem Moment, da der Verwalter den Auslösemechanismus bediente und die Frühstückszutaten, sunny-side-up, in den blauen Himmel geschleudert wurden, holte mich der Flintenschuss des Majors in die Realität zurück.
Es war jedoch kein Schuss, wie ich feststellen musste. Die Teetasse war mir entglitten und scheppernd auf die Untertasse gefallen. Mit entsetztem Ausdruck, trafen mich die Blicke des anwesenden Tribunals, durch den sich langsam lichtenden Nebel, der eben noch den Major und seine Gattin umwaberten. Das Bild entschwand. Zurück blieb eine ähnliche Szenerie. Jedoch ohne Garten, Verwalter, Flinte und Gurkensandwich. Ich war zurück im Frühstücksraum, der als Zeitfalle getarnten Pension.
Realität und Fiktion flossen ineinander. Ich warf, an mir zweifelnd, einen Blick auf die Teetasse, dachte kurz über das eben erlebte nach, und ließ den Rest des opulenten Frühstücks vorsorglich stehen. Es wurde höchste Zeit, Fawlty Towers zu verlassen.-