18. Reisewege
Auf Indiens Straßen
Indiens Straßenverkehrsverhältnisse allein mit Worten beschreiben zu wollen, ist ein sehr schwieriges Unterfangen und fordert dem mitteleuropäischen Leser, genügend Phantasie ab sich den Lärm, den Abgas-Gestank und die hektische Betriebsamkeit vorzustellen.
Keiner den ich kenne, der durch Indien tourte und pro Tag nicht wenigstens eine haarsträubende Verkehrssituation erlebte. Aus unserer Sichtweise haarsträubend. Inder nehmen so etwas wesentlich gelassener und kommentieren diese Ereignisse oft nur mit dem typischen Wackeln des Kopfes. Das Zusammenleben von mehr als 1,3 Milliarden Menschen erfordert eben andere Denkweisen und weit mehr Flexibilität. In Indien gilt wohl deshalb der Grundsatz:
„Verkehrsregeln sind Empfehlungen“
Bis 1947 war Indien britische Kronkolonie. Folglich herrscht dort offiziell Linksverkehr. Anders als in Großbritannien ist das aber nicht immer erkennbar. Eindeutig wird es im Kreisverkehr in größeren Städten. Das hohe Verkehrsaufkommen macht ein Befahren entgegen des angeordneten Uhrzeigersinns unmöglich. Alle anderen, den Kreisverkehr betreffenden Regeln sind ebenso rechtlich gültig, praktisch aber außer Kraft gesetzt. Wird hierzulande oft das Recht des Stärkeren angewendet, ist es in Indien meist das Recht des Reaktionsschnelleren oder des Unverschämteren. Vorfahrt hat der, der sie sich am schnellsten nutzt.
Die unzähligen Kraftradfahrer bewegen sich todesmutig durch den dichten Verkehr. Wirklich hohe Geschwindigkeiten sind kaum möglich, sodass die Gefährdungen möglicherweise sogar berechenbar bleiben.
Jährlich werden in Indien etwa 20 Millionen Motoroller, Kleinkrafträder und Motorräder neu zugelassen. Wo sich die meisten Menschen kein Auto leisten können, sind motorisierte Zweiräder das bevorzugte Transportmittel. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die phantasievolle Nutzung der Motorräder als Transportfahrzeuge ist beispiellos. In Agra überholte uns ein 125 cm³ Leichtmotorrad bestückt mit drei 11 kg-Propangasflaschen. Jeweils eine seitlich angebunden, die dritte quer auf der Sitzbank hinter dem Fahrer. Einer der Flaschen mangelte es obendrein an der Schutzkappe für das Ventil. In der Nähe Jaipurs fuhr ein älterer Herr neben uns her, der an beiden Lenkerhörnern je zwei prall gefüllte Einkaufstaschen befestigt hatte, beidseitig der Sitzbank hingen Plastiktüten mit Obst und Gemüse und auf dem linken Arm balancierte er sieben (!) volle Eier- Paletten.
Um eine vergleichbare Leistung in Europa bestaunen zu können, muss man eine Veranstaltung des Cirque du Soleil besuchen. Zwei junge Männer konnten wir beobachten als sie, quer über die Sitzbank platziert, zwischen sich eine Ziege transportierten. Der Beifahrer versuchte das aufgeschreckte Tier zu bändigen derweil der Fahrer gleiches mit dem Kleinkraftrad unternahm. Entsprechend unruhig verlief die Fahrt. Bis sie aus unserem Blickfeld entschwanden, hielten sie sich jedoch recht tapfer auf den Rädern.
Reine Personenbeförderungen sind meist noch abenteuerlicher als die Lasttransporte. So sind drei Personen auf einem motorisierten Zweirad absolut nichts Ungewöhnliches. Vier hingegen sieht man schon sehr selten. Das sind dann meist abenteuerlustige junge Männer. Kleinfamilien, zusammen auf einem Krad, verhalten sich da wesentlich verantwortungsbewusster. Junge Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm, fahren generell im sogenannten Damensattel auf dem Soziussitz. Weder sie noch das Kind tragen irgendwelche Protektoren. Helmpflicht besteht ohnehin nur für den Fahrer. Der verantwortungsvolle Vater des Kindes fährt anstatt barfuß, immerhin mit ausgetretenen Flip-Flops. Vermutlich um beim unterstützenden Bremsen, die Fußsohlen zu schonen. Mit wehenden Haaren überholt die Kleinfamilie Busse und Lastkraftwagen, wobei der Fahrtwind ordentlich am Sari der Mutter zerrt. Die Gefahr dass der Wickelrock in die Hinterradspeichen oder die Antriebskette geraten könnte, wird anscheinend ignoriert. Überhaupt verhält sich der indische Verkehrsteilnehmer sehr risikofreudig. Das wirkt sich natürlich auf die Zahl der Verkehrstorten aus und betrifft in besonderem Maße die große Anzahl der motorisierten Zweiräder. Im Jahr 2016 starben nach offiziellen Schätzungen der WHO in Indien 150.587 Menschen. Die inoffizielle Gesamtschätzung beläuft sich allerdings auf 299.091 Tote. In 25% der Unfälle in Indien, sind Motorräder involviert und 20% der Verkehrstoten sind Zweiradfahrer. Das sind rein rechnerisch etwa 164 Motorradunfälle mit tödlichem täglich !
Ähnlich abenteuerlich, nur langsamer, bewegen sich Indiens Fahrradfahrer. Technisch sind die Fahrräder auf das absolute Minimum reduziert. Überflüssiger Schnickschnack wie Lampen, Kettenschutz und Vorderradbremsbeläge sind meist nicht vorhanden. Selten fehlt jedoch die Fahrradglocke.
Für Personentransporte stehen die in ganz Asien weit verbreiteten Rikschas, auch hier in hoher Zahl bereit. Ohne Gangschaltung mit zwei Personen im Heck, traut man den kleinen drahtigen Fahrern, die Energieleistungen die sie erbringen kaum zu. Werden mehrere von ihnen für eine Stadtrundfahrt mit einer Touristengruppe gebucht, wird derjenige der die gewichtigsten Gäste abbekam, von seinen Kollegen beständig verhöhnt. Es werden unter großer Anstrengung, Überholmanöver eingeleitet, um dann mit entspanntem unbeteiligtem Gesichtsausdruck, scheinbar mühelos an ihm vorbeizugleiten. Die Schmach nicht auf sich sitzend lassen, riskiert manch ein Überholter daraufhin einen Kreislaufkollaps. Schande den Touristen, die den Ärmsten auch noch dazu anfeuern.
Ihnen wünsche ich für drei lange Tage Montezumas Rache, und kein einziges Blatt Papier zur Hand.
Dreiräder für den Lasttransport sind wesentlich spartanischer ausgestattet als die Rikschas. Die Hinterräder sind sehr häufig hartgummibereift. Dadurch sind sie wartungsärmer als luftbereifte Räder. Auf Fahrkomfort muss der Betreiber allerdings verzichten. Auch die Exemplare für den gewerblich genutzten Lasttransport, weisen in der Mehrzahl weder funktionierende Bremsen, Licht oder Kettenschutz auf. Durch die maximale Ausnutzung der Ladekapazität kommen sie aber ohnehin kaum ins Rollen. Folglich ist das Vorhandensein der Bremsen hier überflüssig.
Die nächstgrößeren Fahrzeuge sind die Tuk-Tuk genannten Autorikschas. Das Grundmodell entspricht in etwa dem italienischen Piaggio Ape oder dem Daihatsu Midget. Sie gelten als recht sicher, da nur etwa 4,5 Prozent der jährlichen 140.000 Verkehrstoten Indiens auf Unfälle mit Tuk-Tuks zurückzuführen sind. In den buntbemalten Dreirädern über unasphaltierte Landstraßen zu rumpeln, empfinden bandscheibengeschädigte Touristen meist nicht sehr reizvoll. Doch bei aller Kritik, sollte man bedenken, dass die Bewegungsfreiheit in keiner Weise durch einen Sicherheitsgurt eingeschränkt wird. Auch die Gefahr durch einen plötzlich auslösenden Airbag verletzt zu werden, besteht faktisch nicht. Man geht davon aus, dass in Indien mehr als 2,5 Millionen dieser Fahrzeuge unterwegs sind. 70.000 davon allein in Delhi.
Der Personentransport mittels Privat-PKW ist dem in westlichen Ländern vergleichbar. Gelegentlich sieht man überladene Fahrzeuge, aber selten in der Art und Weise wie bei den zuvor erwähnten Tuk-Tuks.
Die für den Warentransport gedachten und ausgelegten Ladeflächen von Kleinlastwagen und Pick-ups werden sehr häufig auch für den Personentransport genutzt. Ob bei Überlandfahrten, als Schulbus, oder gar Krankentransporte. Alles ist denkbar. Alles ist Realität.
Hinsichtlich des Platzbedarfs der Passagiere gibt es wenig bis gar keine Einschränkungen. Die unzureichende Tiertransportverordnung der EU bietet den Reisenden in der Regel mehr Komfort. Zumal das Fahrzeugdach generell auch noch als Fahrgastraum zählt. Fünf bis sechs Leute finden auf einem Jeep des indischen Herstellers Mahindra bequem Platz. Das erscheint dem Mitteleuropäer sicherheitstechnisch bedenklich. Möglicherweise geht auch ab und an ein Fahrgast verloren. Der Passagierverlust beläuft sich aber auf die Gesamttransportmenge gerechnet, sicherlich im unteren einstelligen Prozentbereich. Fahrzeuge die mit einer Dachreling ausgestattet sind, bieten schon ein erhöhtes Maß an Sicherheit. Vorausgesetzt die Halterungen sind nicht allzu stark korrodiert. Auf einer engen Passstraße in den südindischen Nilgiri- Bergen, überholte uns ein solcher Jeep. Sechs Passagiere im Fahrzeuginneren und zusätzlich vier junge Männer auf dem Dach. Die Unebenheit der Straße bewirkte ein mehr oder weniger sanftes Schaukeln des Fahrzeugs. In einer langgezogenen Rechtskurve passierte uns der Jeep, wobei er weit nach rechts überlegte und die Dachpassagiere Gefahr liefen über Bord zu gehen und in den Baumwipfeln des nahen Abgrunds zu entschwinden. Aufgrund der fehlenden Dachreling, war das Verhalten der Beteiligten äußerst tadelnswert.
Die zahlreichen Dachpassagiere auf den Überlandbussen finden Halt in der Gruppe. Diese Aussage stimmt auf zweierlei Art. Zum Einen in psychologischer Hinsicht. Zum Anderen durch die Tatsache, dass sie sich ähnlich der Umklammerung von Rugbyspielern in einem angeordneten Gedränge, gegenseitig festhalten.
Die Gefahr besteht jedoch wohl weniger darin, dass einzelne Personen vom Dach fallen, sondern eher darin, dass die Busse in Schluchten, Flüsse, Kanäle oder von Brücken stürzen. Gibt man im Internet den Suchbegriff „Busunglück Indien“ oder vergleichbare Begriffe ein, erhält man eine schier endlose Liste.
Auch auf größeren Lastwagen sieht man Personen, auf dem Führerhausdach sitzen. Wie das ausgeht wenn der Fahrer hart abbremsen muss, hat man in Filmen schon häufig sehen können. Dort sind es aber Stuntmen die den Flug über die Motorhaube kontrolliert und geplant vollführen. Und das auch nur selten in Flip-Flops und Dhoti. Da die Highways auch von Kühen und Schaf-oder Ziegenherden frequentiert werden, ist eine erforderliche Notbremsung durchaus im Bereich der Möglichkeiten. Den Highway kreuzender Querverkehr, könnte ebenfalls eine abrupte Bremsung erforderlich machen. Beliebt ist es auch, um einen Umweg zu vermeiden, dem Verkehr auf dem Standstreifen entgegen zu fahren. Meist aber nur bis zur nächsten Ausfahrt.
Die Lastkraftwagen Indiens sind kleine Kunstwerke. Grellbunt, phantasievoll, handbemalt. So kann man mit drei Worten die Farbgebung beschreiben. Man sieht unter anderem religiöse Sprüche, orientalische Ornamentik, und das komplette Dienstleistungsangebot des Betreibers inklusive Preisliste. Umkränzt von Blumengirlanden, Troddeln und sonstigem Zierrat. Zwischen der reichhaltigen Bemalung fällt bei Tankfahrzeugen die aufgemalte orangefarbene Gefahrgut-Warntafel kaum auf. Die UN-Bezeichnungen für die Gefahrstoffe scheinen jedoch stimmig. Vorausgesetzt, dass was außen aufgemalt ist, auch innen transportiert wird.
Am Heck prangt in großen Lettern der Hinweis „Blow Horn“. Dieser Aufforderung kommt man gerne und häufig nach. Alle möglichen Verkehrssituationen werden mit der Hupe klangvoll begleitet. Generell wird sie eingesetzt um zu Beginn eines Überholvorgangs dem Langsameren mitzuteilen, er möge doch bitte bis auf Weiteres die Spur halten und seinerseits auf eigene Überholmanöver zu verzichten.
Die farbliche Gestaltung der Fahrzeuge kaschiert auch den technischen Zustand der Fahrzeuge ein wenig. Zumindest lenkt sie den Blick von den größten Mängeln ab. Diese führen, wie kann es anders sein, immer wieder zu Pannen. Liegen gebliebene LKW werden so gut es geht noch an den Straßenrand bugsiert und dann gesichert. Warndreiecke kommen dabei nicht in Betracht. Es werden stattdessen handballgroße Steine rund um das abgestellte Fahrzeug platziert.
Diese sind neben optischen auch noch akustische Warngeber, wenn man sie überfährt. Das veranlasst jedenfalls den fließenden Verkehr einen größeren Bogen um das Pannenfahrzeug zu machen, als wenn in 50 Metern Abstand lediglich ein Warndreieck stehen würde.
Unser Reisebus blieb aufgrund eines geplatzten Kühlwasserschlauchs auf einem Gebirgspass liegen. Bei 36°C Außentemperatur und steter Bergauffahrt hätte wohl kein Motor eines modernen Reisebusses den Ausfall der Kühlung und der dadurch einhergehenden Überhitzung, überlebt. Der robuste Motor des Ashok-Leyland brummte, nach erfolgter Reparatur mit Bordmitteln durch den grandiosen Busfahrer und den Bus-Boy, munter weiter.
Am häufigsten sieht man Lastkraftwägen mit geteilter Frontscheibe. Der breite Mittelholm , gehäkelte Borten, Aufkleber und baumelnde Glücksbringer im Inneren, schränken das Sichtfeld des Fahrers erheblich ein. Viel mehr als die Größe eines DIN A3-Blatts bleibt da oft nicht als Fenster zur Außenwelt. Das genügt im Allgemeinen auch, weil Vorfahrtsregeln und Verkehrszeichen nur theoretisch gelten und nicht wahrgenommen werden. Zu ihrem eigenen Schutz entzünden LKW- und Busfahrer am Fahrzeug befestigte Räucherstäbchen. Um die bösen Geister fernzuhalten. Vermutlich meiden die meisten Dämonen ohnehin die indischen Straßen. Es läuft ja auch ohne ihr Zutun. chaotisch genug.